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Typisch im Untypischen

Boltzmann ist freiwillig aus dem Leben geschieden, nicht etwa deshalb, weil das Bild, welches ich entworfen habe und von dem ich behaupte, daß es Boltzmanns Auffassung wiedergibt, für unser Newtonsches Universum nicht zutrifft. Vielmehr ist sein Freitod auch im Zusammenhang mit den Anfeindungen seiner Kollegen zu sehen, die seiner (reduktionistischen) Idee, daß alles physikalische Geschehen auf ein Gesetz, nämlich auf das Newtonsche für die Bewegung von Teilchen, zurückzuführen sei, nicht folgen konnten oder wollten. Allgemeine Zustimmung gab es erst mit der Einsteinschen Arbeit zur Brownschen Bewegung, jener seit der Erfindung des Mikroskops bekannten Zitterbewegung kleinster, auf einer Flüssigkeit schwimmenden Teilchen. Diese Bewegung, die sehr dem Pfadverlauf einer Kugel im Galtonschen Brett ähnelt, hatte Einstein dem Einfluß molekularer Stöße zugeschrieben.

Ein typisches Universum ist ein Gleichgewichtsuniversum, ein Gleichgewicht, auf das unser Universum zustrebt (auf den Wärmetod, wie Clausius es nannte). Im Augenblick ist unser Universum noch extrem weit von diesem Wärmetod entfernt, aber wir erfahren das zielstrebige Hinlaufen zum Gleichgewicht ständig und allgegenwärtig im zweiten Hauptsatz der Thermodynamik. Dieser Hauptsatz sagt aus, daß thermische Prozesse immer nur in einer Richtung ablaufen--irreversibel, d.h. nicht umkehrbar. Das Zerbrechen eines Glases ist ein solcher thermischer Prozess, und niemand sah jemals ein zerbrochenes Glas sich von alleine wieder zusammenfügen. Niemals werden wir erleben, daß ein kalter Körper einen wärmeren von sich aus erwärmt . In technischen Termen ausgedrückt besagt der zweite Hauptsatz, daß alle thermischen Prozesse so ablaufen, daß die Entropie des Universums zunimmt. (Ich will jetzt nicht sagen, was die Entropie ist .) Niemand außer Boltzmann konnte das erklären. Er erklärte es mit der Bewegung von Teilchen, die der Newtonschen Mechanik gehorchen. Das war insofern ungeheuer, als nach der grundlegenden Newtonschen Mechanik (und in der Tat nach allen unseren grundlegenden physikalischen Gesetzen) einer Selbstheilung des Glases nichts im Wege steht, und auch nicht dem selbständigen Wärmefluß vom kalten zum warmen Körper. Boltzmanns Erklärung ist folgende: Man denke an ein Gas in einem Volumen, und dieses Gas sei in einem ganz speziellen Zustand, nämlich die Hälfte des Volumens sei leer, so daß das Gas nur die Hälfte des Volumens ausfülle (es liegt also der untypische Zustand in Abbildung 1 vor). Wenn nun dies so ist, dann muss man das als einen ganz speziellen und nicht-typischen Zustand akzeptieren, aber nicht mehr und nicht weniger, d.h. man hat davon auszugehen, daß in dieser einen Hälfte des Volumens die Moleküle typisch verteilt sind und daß die zukünftige Entwicklung des Systems typischerweise nur eine sein kann: Homogenes Ausfüllen des gesamten Volumens, um dann im wesentlichen für immer in diesem Zustand zu bleiben. Eingangs dieses Artikels haben wir bereits gesagt, warum dies unter den Gegebenheiten typisch ist: Das Gas verteilt sich nach denjenigen Möglichkeiten, die am weitaus häufigsten sind, und das sind gerade diejenigen, welche zum makroskopischen Bild einer mehr und mehr homogenen Dichte gehören.

Der Anfangszustand unseres Universums ist aber nach unserem Wissen noch sehr viel spezieller, als das Gasbeispiel deutlich machen könnte. Es ist so speziell, wie eine Dualzahl die mit ungeheuer vielen Nullen beginnt, mit lächerlich vielen Nullen, so daß man meinen sollte, die Zahl ist einfach Null, bei der dann aber doch noch irgendwann eine typische 0-1-Folge kommt. Es ist hier nicht der Ort, diesen Gedanken weiter auszuarbeiten. Für eine lesenswerte Beschreibung dieses Problems und dem Begriff der Entropie verwandter Fragen, sei auf R. Penroses Buch ,,The Emperors New Mind`` (Penrose 1990.) verwiesen. Penrose versucht, die aus den physikalischen Gesetzen nicht erklärbare Spezialität unseres Universums mit einer Abbildung deutlich zu machen, der die Abbildung 8 nachempfunden ist.

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Abbildung 8: Der Anfangszustand unseres Universums ist untypisch.Es gibt nur ganz, ganz wenige Anfangspunkte, die ein Universum wie unseres ergeben, das nicht im thermischen Gleichgewicht ist. Es gibt keine physikalische Erklärung dafür.

Unser Universum ist im Großen nicht typisch, aber gegeben diese Tatsache, ist alles wieder typisch-- typisch im Untypischen. Typischerweise nimmt die Entropie zu, und typischerweise findet Übergang ins Gleichgewicht statt. Für dieses typische Verhalten eines Gases etwa hat Boltzmann seine berühmte Boltzmann-Gleichung abgeleitet. (Lesenswert dazu ist der Artikel von Ehrenfest, Ehrenfest 1911, und die Wiederauflage des Buches Kac 1991)

Deutlicher als bei der regulären Regellosigkeit des Münzwurfes ist beim Zerbrechen eines Glases das ganze Universum beteiligt: Daß es sich nicht schnell wieder zusammensetzt (in der Tat typischerweise überhaupt nie wieder), liegt daran, daß unser Universum so speziell ist. Es ist eines der großen ungelösten Problem der Physik zu verstehen, was den speziellen Anfangszustand unseres Universums physikalisch notwendig macht. Man nennt dies auch oft das Problem der Irreversibilität.


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D. Duerr
Wed May 6 16:27:57 MET DST 1998