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Quantengleichgewicht

Boltzmanns Idee der Begründung der statistischen Hypothese und der Gibbssche statistische Ansatz sind unabhängig von der speziellen Gestalt zugrunde liegenden der physikalischen Theorie. Es ist eigentlich gleichgültig, ob die Welt aus Punkt-Teilchen besteht, aus Feldern oder aus Fäden-Teilchen (Strings) oder wer weiß sonst was. Solange es für diese Größen physikalische Gesetze gibt, steht der Boltzmannschen Einsicht der typischen Bewegung nichts entgegen. Man kann natürlich durch das Problem der Irreversibilität abgeschreckt sein, aber das sollte man nicht. Man sollte sich nur dieses Problems bewußt sein.

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Abbildung 9: Der Wanderung von 3 Teilchen im physikalischen Raum (hier in einer Dimension) entspricht im 3-dimensionalen Konfigurationsraum eine Bahn

Die Newtonsche Mechanik wird ja von der Quantenmechanik abgelöst, was bedeutet, daß die Quantenmechanik allgemeingültiger als die Newtonsche Mechanik ist und diese zu erklären hat (siehe z. B. Weinberg 1997). Diese Sicht der Quantenmechanik wird noch nicht von allen Physikern geteilt, insbesondere war dies nicht die Sicht von Niels Bohr, einem der Begründer der Quantenmechanik. Aber wenn man einmal diese Sicht hat, dann muß sich die Bewegung der Punkt-Teilchen der Newtonschen Mechanik aus der Quantenmechanik ergeben. Die bisherige Lehrbuch-Quantenmechanik kann dies nicht leisten, und es gibt noch keine Einigkeit darüber, wie eine endgültige Quantenmechanik, die dies leistet, aussehen wird (siehe Goldstein 1998). Eine naheliegende Theorie ist die Bohmsche Mechanik, die nach ihrem Urheber David Bohm (1917-1992) benannt ist. Sie wird auch häufig als ,,pilot wave theory`` bezeichnet, weil in ihr eine ,,abstrakte Welle`` die Bewegung von Teilchen erzeugt. Bohmsche Mechanik ist auch ein Gesetz für die Bewegung von Teilchen, Bohmschen Teilchen, nicht Newtonschen, das bedeutet, waß das Gesetz für die Bewegung nicht Newtonsch ist.

Das Merkmal dieser Theorie ist, daß sie schon gar nicht mehr im physikalischen 3-dimensionalen Raum formuliert wird, sondern gleich im Phasenraum, wobei aber der Phasenraum der Bohmschen Mechanik in diesem Fall nicht 6N-dimensional, sondern nur noch 3N-dimensional ist, d.h. die Bewegung der Teilchen ist bereits eindeutig bestimmt, wenn man alle Orte kennt. Der 3N-dimensionale Raum, in dem die Teilchenorte abgetragen werden, heißt traditionell auch Konfigurationsraum (siehe Abbildung 9)

In der Bohmschen Mechanik ist also der Phasenraum der Konfigurationsraum. Das Gesetz für die Bewegung der Teilchen wird mit der Schrödingerschen Wellenfunktion tex2html_wrap_inline647 ( auch tex2html_wrap_inline649-Funktion genannt) formuliert, die eine ,,abstrakte Welle`` auf dem Konfigurationsraum darstellt. Sie gehorcht einer Wellengleichung (analog zum Newtonschen Gravitationspotential, das der Potentialgleichung genügt), der berühmten Schrödingergleichung.

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Abbildung 10: Eine ebene Welle fällt auf einen Doppelspalt. Von den Spalten ausgehend entstehen Kugelwellen, die sich überlagern (interferieren).

Die tex2html_wrap_inline649-Funktion hat Welleneigenschaften, sie kann sich auslöschen (destruktive Interferenz) oder verstärken (konstruktive Interferenz). Betrachtet man nur ein einziges Teilchen, dann ist die tex2html_wrap_inline649-Funktion eine Welle im 3-dimensionalen Raum, in welchem man das Wellenbild und die Teilchenbahnen des Teilchens, d.h. den Fluß (die Gesamtheit aller Bahnen des Teilchens auf dem Konfigurationsraum, der für ein einzelnes Teilchen gerade dem physikalischen Raum gleicht), veranschaulichen kann.

Ich möchte das Bewegungsgesetz der Teilchen nicht detailliert aufschreiben (siehe z. B. Bell 1987, Dürr, Goldstein, Zanghi 1992 und 1996). Für die Anschauung genügt es zu sagen, daß sich die Bahnen in den Wellenbergen und Tälern (im hoch-dimensionalen Konfigurationsraum) häufen, und daß es dort, wo die tex2html_wrap_inline649-Funktion verschwindet, keine Bahnen gibt.

Die Abbildung 11 zeigt die möglichen Bahnen eines Bohmschen Teilchens bei dem sogenannten Zwei-Spalt-Experiment: Ein Teilchen wird auf zwei mikroskopisch kleine Spalte geschickt. Die das Teilchen führende tex2html_wrap_inline659Funktion verhält sich nach den zwei Spalten wie jede Welle: Es wird ein Interferenzmuster nach dem Huygensschen Prinzip erzeugt (Abbildung 10).

Die Stellen ohne Teilchenbahnen zeigen, wo die Interferenz die Welle ausgelöscht hat.

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Abbildung 11: Die möglichen Bahnen eines Bohmschen Teilchens beim Zwei-Spalt-Experiment. Die Endpunkte der Bahnen sind das berühmte Interferenzmuster des Zweispalt-Experimentes. In jedem ,,Lauf`` des Experimentes, bei dem ein Teilchen auf den Weg geschickt wird, erhält man auf einer am rechten Ende aufgestellten Photoplatte eine zufällige punktuelle Schwärzung (siehe Abbildung 12), die der Endpunkt einer zufällig ausgewählten Bahn der gezeigten möglichen Bahnen ist.

Die für Wellen typische Ausbreitung nach allen Seiten sorgt dafür, daß die Bohmschen Bahnen in einem idealen Sinne instabil oder moderner gesagt, chaotisch sind: Was man sich am Galtonschen Brett mühsam klarmachen mußte, liefert die Bohmsche Mechanik fast umsonst. Dies zeigt Abbildung 11 ganz deutlich: Direkt hinter dem Spalt fächern die Teilchenbahnen auf so weit es geht, und trennen sich (vergleiche Abbildung 3).

Eine häufig gestellte Frage ist, ob man die Bahnen im Zweispaltexperiment ``sehen`` kann. Gemeint ist dabei, ob man die Bahn eines Teilchens durch einen der beiden Spalte hindurch sichtbar machen kann (z. B. in einer Nebelkammer), ohne daß sich am Auftreffmuster auf der Photoplatte (Abbildung 12) etwas ändert. In der Bohmschen Mechanik ist das unmöglich, weil jede Wechselwirkung mit dem Teilchen--und das Betrachten der Teilchenbahn ist eine Wechselwirkung--eine Beschreibung auf dem Konfigurationsraum des umfassenden Systems, welches aus Teilchen und ,,betrachtendem Gerät`` besteht, erforderlich macht. Die neue Wellenfunktion ist dann eine auf diesem Konfigurationsraum, was bedeuted, daß die Interferenzmöglichkeit zerstört wird.

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Abbildung 12: Im Laufe der Zeit bilden die zufälligen Auftreffpunkte der Teilchen, die nacheinander den Doppelspalt passieren, ein Interferenzmuster, wie es bei Welleninterferenz auftritt. Die relativen Häufigkeiten für die Auftreffpunkte werden durch das Absolutquadrat der Wellenfunktion bestimmt.

Wie es der Zufall will, wurde Quantenmechanik bereits seit der Erfindung der Schrödinger-Gleichung als statistische Theorie angesehen, allerdings ohne daß eine Verknüpfung mit den Boltzmannschen und Gibbsschen Ideen hergestellt wurde. Der Physiker Max Born (1882-1970) postulierte, daß tex2html_wrap_inline661 die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Orte der Teilchen angibt. In der Tat beruhte dieses Postulat auf der sogenannten Quantenflußgleichung, die von Schrödinger (1887-1961) gefunden wurde und ganz analog zum Liouvilleschen Theorem zu sehen ist. Diese besagt, daß die Gewichtung eines jeden Punktes des Konfigurationsraums mit tex2html_wrap_inline661 ein Volumenmaß ergibt, das von der Bohmschen Dynamik selbst ausgezeichnet ist, nämlich ,,stationär`` ist (in einem etwas allgemeineren als dem üblichen Sinne, was für unsere Diskussion unerheblich ist). Hiermit haben wir ein physikalisches Beispiel eines von der Physik ausgezeichneten Inhaltes von Mengen, welcher anders als in der klassischen Mechanik und des Liouvilleschen Theorems nicht mehr durch den gewöhnlichen Rauminhalt gegeben ist.

Das Bornsche Postulat ist ganz analog zum Gibbsschen Ansatz. Man wird sich fragen, warum dieser Zusammenhang nicht gleich erkannt wurde. Ein Grund dafür liegt darin, daß in der Newtonschen statistischen Mechanik unserer Welt die Gibbssche Hypothese meistens falsch ist: Es herrscht kein thermisches Gleichgewicht. Die Bornsche Hypothese schien dagegen ausnahmslos richtig zu sein: Es herrscht immer ,,Quantengleichgewicht``. Das hätte zu der Überzeugung führen sollen, daß nun das Boltzmannsche Programm durchführbar ist.

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Abbildung 13: Unser Universum ist im Quantengleichgewicht.

Erst bei dem Physiker John S. Bell (1928-1990) findet man das Selbstverständliche kurz und selbstredend bemerkt (Bell 1987, vorher spricht Bell von der Bahn eines atomaren Teilchens, dem tex2html_wrap_inline665- Teilchen in einer Nebelkammer):

Suppose, for example, this world contains an actual ensemble of similar experimental set-ups. In the same way as for the tex2html_wrap_inline665-particle track it follows from the theory that the ,,typical`` world will approximately realize quantum mechanical distributions over such approximately independent components. The role of the hypothetical ensemble is precisely to permit definition of the word ,,typical``.

Die Ausarbeitung dieser wenigen Zeilen ist dann allerdings ziemlich aufwendig, aber nicht mehr als das (Dürr, Goldstein, Zanghi 1992 ). Begrifflich war von Bell eigentlich schon alles gesagt: Die Konfiguration der Bohmschen Teilchen unseres Universums ist bezüglich des tex2html_wrap_inline669-Volumens typisch , wobei natürlich tex2html_wrap_inline671 die Wellenfunktion unseres Universums darstellt. Es ist also so, daß in diesem Falle das physikalische Bewegungsgesetz der Bohmschen Teilchen die Anfangskonfiguration bestimmt, nämlich als typische Konfiguration. Anders als in Abbildung 8 kann nun ohne ,,äußere Hilfe`` die Anfangsbedingung blind dem Bohmschen Gesetz folgend ausgewählt werden, was in Abbildung 13 zum Ausdruck gebracht werden soll.

Es ist hiermit keineswegs gesagt worden, daß unser Universum, quantenmechanisch gesehen, typisch ist! Nach wie vor ist unser Universum speziell, nur ist diese Spezialität verschoben worden, von den Teilchenkoordinaten hin zur Wellenfunktion. Es ist die Wellenfunktion des Universums, die für das thermische Nichtgleichgewicht unseres Universums verantwortlich ist. Die Teilchen des Bohmschen Universums aber sind ,,im Gleichgewicht`` mit der sie führenden Wellenfunktion.

Danksagung
Für die Korrektur und für viele lehrreiche Gespräche über die Grundlagen dieses Artikels möchte ich mich bei Reinhard Lang bedanken.


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D. Duerr
Wed May 6 16:27:57 MET DST 1998