Anfang unseres Jahrhunderts konstituierte sich Sommerfelds Institut für Theoretische Physik in München, das bald zum Mekka der theoretischen Physiker wurde. Während Albert Einstein (1879-1955) ab 1889 das Münchner Luitpoldgymnasium besuchte, lehrte gleichzeitig Boltzmann an der Universität. Ab dieser Zeit wird mit Ludwig Boltzmann (1844-1906), Wilhelm Röntgen (1845-1923), Arnold Sommerfeld (1868-1951), Wilhelm Wien (1864-1928; 1920 Nachfolger von Röntgen) und dem Sommerfeld-Schüler Werner Heisenberg (1901-1976) die Ludwig-Maximilians-Universität im 20.Jahrhundert zu einem Zentrum physikalischer Forschungen. 1928 waren fast ein Drittel aller Ordinarien der theoretischen Physik im deutschsprachigen Raum Schüler Sommerfelds und damit wissenschaftliche ,,Enkel`` Lindemanns.
Neben der theoretischen Physik gehört auch die Didaktik zu den Anfang des Jahrhunderts neu ausgebauten Forschungsgebieten. Durch das Bemühen, die Mathematikstudierenden recht zügig an neueste Forschungsergebnisse heranzuführen, hat sich im 20.Jahrhundert fast zwangsläufig eine gewisse Kluft gebildet zwischen dem Unterricht an der Universität und dem an der Schule, der andere Schwerpunkte und Ziele zu berücksichtigen hat. Ein künftiger Lehrer hat nicht nur das Wissen zu erlernen, das ihm die Universität als Ergebnis der Forschung vermittelt, sondern er muß - gleichsam in einem zweiten Arbeitsgang - ebenfalls lernen, wie er dieses Wissen für seinen Schulunterricht umsetzt und es hier weitergibt. Dazu dienen ihm spezielle Vorlesungen, Übungen und Seminare über Methodik und Didaktik.
Die Universität München war hierin zeitweise in Deutschland führend. 1912 hatte sich Hugo Dingler (1881-1954), nachdem er am Gymnasium Unterrichtserfahrung gesammelt hatte, für Methodik, Unterricht und Geschichte der mathematischen Wissenschaften habilitiert. Ein Jahr vorher hatte es mit Rudolf Schimmack (1881-1912) in Göttingen eine Habilitation speziell für Didaktik der mathematischen Wissenschaften gegeben. Beides sind die ersten historisch belegten Habilitationen dieser Art in Deutschland. Wie Lorey schreibt, vertrat Dingler 1916 ,,als derzeit einziger Dozent an einer deutschen Universität, die Didaktik der mathematischen Wissenschaften``. So kündigte Dingler etwa im Wintersemester 1913/14 ,,Elementarmathematik vom höheren Standpunkt`` an, neben einer zweistündigen ,,Einführung in die Geschichte der Mathematik vom Altertum bis jetzt``. Auch las er über Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte.
Nach Einführung der Mathematikdidaktik wurde auch der Ruf nach elementarmathematischen Vorlesungen laut. Hierin sollten unter anderem ,,die erkenntnistheoretischen Grundlagen der mathematischen Denkweise`` genauer diskutiert werden. 1920 wurde nach einem Antrag Lindemanns ein entsprechender ständiger Lehrauftrag eingerichtet, der an die damals eingerichtete außerplanmäßige Professur ,,für Methodik, Unterricht und Geschichte der mathematischen Wissenschaften`` angegliedert war. Die Vorlesungen von Felix Klein ,,Elementarmathematik vom höheren Standpunkte aus`` (1908) wurden hierfür lange Zeit als Vorbild angesehen. Eine gleichnamige Vorlesung wurde in München bis Ende der 1950er Jahre u.a. von Kurt Vogel (1888-1985) gelesen. Vogels besonderes Verdienst ist, daß München seit 1963 ein weitgehend eigenständiges Institut für Geschichte der Naturwissenschaften besitzt.
Zu den Lehrbeauftragten für Elementarmathematik gehörte Anfang der 30er Jahre auch Salomon Bochner (1899-1982), der 1926 als Assistent nach München gekommen war und hier nach seiner Habilitation 1927 bis zu seiner Emigration 1933 wirkte. Seine 1932 erschienenen ,,Vorlesungen über Fouriersche Integrale`` (Leipzig: Akad. Verlagsges.; 1959/62 auch in englischer bzw. russischer Sprache erschienen) waren Vorläufer der Distributionstheorie. Wie seine gesammelten Abhandlungen (Selected Mathematical Papers. New York: Benjamin 1969) zeigen, bildeten die zahlreichen Arbeiten aus seiner schöpferischen Münchner Phase (u.a. zu fastperiodischen Funktionen) eine wesentliche Grundlage für die ihm später zuteil gewordene breite fachliche Anerkennung.
Im Vergleich zu manch anderer Universität war der mathematische Fachbereich in München im 20.Jahrhundert sowohl räumlich durchaus gut ausgestattet, als auch ab 1920 personell mit sechs Professoren - und einem Assistenten - in seinem Lehrbetrieb. Nach der fast gemeinsamen Neubesetzung aller drei Lehrstühle kam es unter der Ära Perron, Carathéodory und Tietze in den 20er und 30er Jahren zu einer Blütezeit der Mathematik in München. Voss, Pringsheim, Tietze und Perron waren zeitweise auch Vorsitzende der Deutschen Mathematiker-Vereinigung.
Oskar Perron (1880-1975) hatte 1902 bei Lindemann ,,Über die Drehung eines starren Körpers um seinen Schwerpunkt bei Wirkung äußerer Kräfte`` promoviert und war - aufbauend auf seiner Habilitationsschrift über ,,Grundlagen für eine Theorie des Jacobischen Kettenbruchalgorithmus`` (1906) - vor allem durch sein 1913 erschienenes Standardwerk ,,Lehre von den Kettenbrüchen`` als Fachmann auf diesem Gebiet bekannt geworden. Es war das erste zusammenhängende, in sich abgeschlossene Lehrbuch auf diesem Gebiet. Schon in frühen Jahren hatte er wichtige Sätze für die numerische Mathematik aufgestellt, wie etwa die Sätze von Perron-Frobenius über charakteristische Zahlen von Matrizen oder Sätze über das qualitative Verhalten von Lösungen von Differentialgleichungen. Sein Name ist ebenfalls erhalten im ,,Denjoy-Perron-Integral`` und in der ,,Perronschen Methode`` zur Lösung des Dirichletschen Randwertproblems. Auch seine Lehrbücher über ,,Algebra`` (1927) und die ,,Irrationalzahlen`` (1923) fanden beachtliche Verbreitung.
Constantin Carathéodory (1873-1950), der von 1913 bis 1918 Nachfolger von Felix Klein in Göttingen war, galt als ungewöhnlich umfassend gebildet. Nachdem er zunächst als Ingenieur in Ägypten tätig gewesen war, hatte er Mathematik ab 1900 in seiner Geburtsstadt Berlin, später in Göttingen studiert. 1904 promovierte er mit einer aufsehenerregenden Arbeit ,,Über die Theorie der diskontinuierlichen Lösungen in der Variationsrechung`` und hat sich ein Jahr später bei Klein und Hilbert in Göttingen habilitiert. Neben der reellen (Maßtheorie, Algebraisierung des Integralbegriffs) und komplexen Analysis (Konvergenzradien von Potenzreihen, Picard'sches Problem, Schwarzsches Lemma, ,,Landauscher Radius``, konforme Abbildungen, analytische Funktionen mehrerer Variablen) gehört die Variationsrechnung zum Hauptarbeitsgebiet von Carathéodory. Im Gegensatz zu Hilbert, dessen Arbeitsschwerpunkte in meist konzentrierter Form eher chronologisch aufeinanderfolgen, hat Carathéodory fast alle seiner Gebiete gleichzeitig gepflegt, wodurch sie in enger Wechselwirkung zueinander stehen. Zudem arbeitete er auch auf dem Gebiet der Mechanik, der Thermodynamik, der geometrischen Optik und der Differentialgeometrie. In einem Berufungsantrag wird besonders darauf hingewiesen, daß ,,alle seine analytischen Arbeiten vom Geiste der Geometrie durchdrungen seien. Jedes Problem faßt er geometrisch an und benutzt seine außergewöhnliche Raumanschauung als gewaltiges Hilfsmittel`` [s. Toepell, 8.1.6]. Auch für Geschichte der Mathematik hat er sich interessiert. Seine Gesammelten Mathematischen Schriften sind 1957 in fünf Bänden erschienen. Zudem war er Herausgeber der Mathematischen Annalen und Mitglied zahlreicher wissenschaftlicher Gesellschaften und Akademien.
Heinrich Tietze (1880-1964), der 1925 aus Erlangen nach München kam, war an der Entwicklung der Topologie in Forschung und Lehre maßgebend beteiligt. 1930 verfaßte Tietze gemeinsam mit Leopold Vietoris den Enzyklopädie-Artikel zur Topologie (Enzyklopädie der mathematischen Wissenschaften. Bd. III AB 13, S.141-237), der in erster Linie einer Klärung der damals noch recht uneinheitlichen Begriffe diente. Zu den von Tietze bewiesenen grundlegenden topologischen Sätzen gehört etwa der Satz, daß auf jeder nicht orientierbaren (also einseitigen) Fläche wenigstens sechs Nachbargebiete angegeben werden können, d.h. sechs Gebiete, von denen jedes mit jedem der fünf anderen eine gemeinsame Grenzlinie hat. Weitere von Tietze begründete Ergebnisse bewegen sich ebenfalls im Umfeld des zu den bekanntesten Aussagen der algebraischen Topologie gehörenden Satzes - des Vierfarbensatzes. Außerdem untersuchte er die Theorie der Verknotung und Verkettung von Schnüren, woraus 1942 ein einführendes Lehrbuch hervorging. In den heutigen Topologievorlesungen lebt sein Name in dem ,,Satz von Tietze-Urysohn`` weiter. Daneben arbeitete Tietze auf dem Gebiet der geometrischen Konstruktionen, an Fragen des später ,,Biomathematik`` genannten Gebietes und gab ein verbreitetes zweibändiges Werk ,,Gelöste und ungelöste mathematische Probleme aus alter und neuer Zeit`` (1949) heraus, durch das er anspruchvollere mathematische Probleme einem breiten Publikum zugänglich gemacht hat. Das Werk wurde mehrfach neu aufgelegt.
Auf das 1927 eingerichtete vierte Ordinariat wurde der Funktionentheoretiker Friedrich Hartogs (1874-1943) berufen, der bereits seit 1910 Extraordinarius an der Universität München war [Toepell, 8.1.2]. Hartogs hatte 1903 bei Pringsheim mit der Dissertation ,,Beiträge zur elementaren Theorie der Potenzreihen und der eindeutigen analytischen Funktionen zweier Veränderlicher`` unter Auszeichnung promoviert. 1905 habilitierte sich Hartogs mit einer Schrift ,,Zur Theorie der analytischen Funktionen mehrerer unabhängiger Veränderlichen, insbesondere über die Darstellung derselben durch Reihen, welche nach Potenzen einer Veränderlichen fortschreiten``. Diese Arbeit enthält den später mit dem Namen Hartogs verbundenen Satz (Hartogsscher Hauptsatz). Eine äquivalente Form ist unter dem Namen Hartogsscher Kontinuitätssatz bekannt. Ein Spezialfall davon ist der Hartogssche Kugelsatz: ,,Jede auf einer Kugelschale holomorphe Funktion läßt sich ins Innere fortsetzen.`` In der Hartogs-Figur, die das einfachste Beispiel eines Gebietes darstellt, das kein Holomorphiegebiet ist, und in den Hartogs-Körpern (Konvergenzbereiche bestimmter Reihen) lebt sein Name ebenfalls weiter. Interessant ist auch der tiefliegende Satz von Hartogs, daß eine Funktion mehrerer Veränderlicher bereits dann holomorph ist, wenn sie in jeder Variablen partiell holomorph ist (Stetigkeit muß dabei nicht vorausgesetzt werden).
Hartogs wird als einer der Gründungsväter der komplexen Analysis mehrerer Veränderlicher angesehen - einem inzwischen verbreiteten Gebiet. Er gehört in der modernen Mathematik zu den bekanntesten Namen der früheren Münchner Schule. In späteren Jahren hatte er als Jude unter der Willkür der Nationalsozialisten zu leiden. Nach seiner Entlassung in Jahre 1935 nahm er sich 1943 unter den zunehmend demütigenden Zwangsmaßnahmen das Leben.
Auch darüberhinaus blieb das Mathematische Institut vom Nationalsozialismus nicht verschont. Im Rahmen der Einschränkung des Forschungs- und Lehrbetriebs wurde eine Reihe von Veranstaltungen von Lehrbeauftragten übernommen. Wie deutlich sich Tietze und Perron gegen eine Beeinflussung durch die Nationalsozialisten im Bereich der Akademie wehrten, zeigt der im Anhang wiedergegebene Bericht eines Gaudozentenbundführers. Da Pringsheim den ebenfalls für Emeriti vorgeschriebenen Eid auf Hitler verweigerte, wurde er zwangspensioniert, mußte sich von seiner wertvollen Majolika-Sammlung und seiner Bibliothek trennen und sein Haus in der Arcisstraße zwangsweise an die ,,Partei`` zum Abbruch verkaufen. Schließlich wurde sogar verlangt, daß Pringsheim, Liebmann und Hartogs nicht mehr am ,,Mathematischen Kränzchen`` teilnehmen sollten. Daraufhin ließ Georg Faber (TH München), für den eine Fortsetzung ohne diese Kollegen nicht in Frage kam, das Kränzchen einschlafen. Das nach dem Krieg an dessen Stelle eingerichtete gemeinsame Münchner Mathematische Kolloquium dokumentiert heute noch die Verbundenheit der Mathematiker beider Münchner Hochschulen. 1939 starb Lindemann, der seit seiner Emeritierung 1923 noch lange Jahre an der Universität gewirkt hatte. Ausdruck der Wertschätzung seiner Kollegen ist eine in ihrem Auftrag angefertigte Portraitplastik Lindemanns, die 1922 aufgestellt wurde und heute gegenüber dem Dekanat der Fakultät für Mathematik zu sehen ist.