§ 31 Grundlagen einer
physikalischen Theorie
Das Thema dieses Paragrafen ist ein eigenes Gebiet der Physik,
die "Fundamentalphysik". Auf die Fundamentalphysik kann hier nur kurz
eingegangen werden. Es geht in dieser Vorlesung lediglich darum, das
Zusammenspiel von Mathematik und Physik in einer physikalischen Theorie
anzusprechen, um letztlich eine Motivation zu geben, die Mathematik ernsthaft
zu studieren.
Wenn auch nur skizzenhaft, so soll also die
Rolle der Mathematik in der Physik
in Grundzügen beschrieben werden.
Was ist nun eine physikalische Theorie? Was
entgegen landläufiger Meinungen eine physikalische Theorie nicht ist, wurde zur
Abgrenzung zunächst einmal aufgezählt. Insbesondere gibt es nicht „die
physikalische Theorie“, mit der alle physikalische Phänomene Beschrieben werden
können. Auf die weiteren Abgrenzungen wird in diesen Notizen nicht eingegangen,
siehe [LU].
Stattdessen gleich zur "Definition":
Definition: Eine physikalische Theorie PT setzt sich zusammen aus
drei Komponenten,
1.
dem Wirklichkeitsbereich
W
2.
der mathematischen
Theorie (das mathematische Modell) M
3.
und der Anwendungsvorschrift
.
Kurz: PT = WM .
Beispiele:
1.
W == Planetenbewegung
M == Keplers Gesetze
== Zuordnung
2.
W == Newtonsche Mechanik
M == Newtons Gesetze und die zugehörige Theorie der gewöhnlichen
Differentialgleichungen zweiter Ordnung
== Zuordnung
3.
W == Elektrodynamik
M == Maxwelltheorie
== Zuordnung
4.
W == Einsteins Theorie der Gravitation
M == Geometrie der Raumzeiten und ihre partiellen
Differentialgleichungssysteme
== Zuordnung
5.
W == Elementarteilchen
M == Standardmodell
== Zuordnung
Ständige Überprüfung, im wesentlichen in zwei Richtungen:
A. Experimente oder Phänomene aus dem Wirklichkeitsbereich
werden mit zugeordnet einer
mathematisch formulierten Aussage in M .
Ergebnis: Die mathematische Theorie wird bestätigt, oder sie muss bei hinreichend starker Abweichung verworfen, bzw. modifiziert werden. Gelegentlich auch: Experiment wird überprüft oder verfeinert.
B. Mathematische Schlüsse führen innerhalb M zu einer
Aussage, die vermöge zu einer
überprüfbaren Aussage im Wirklichkeitsbereich transformiert wird (Vorhersage).
Diese wird nach Möglichkeit durch Experimente überprüft.
Ergebnis: Wie oben.
Man beachte:
M ist scharf umrissen und muss genau definiert sein, sonst
gibt das ganze Zusammenspiel keinen Sinn.
W ist eher unscharf, und nicht genauer definierbar.
ist entsprechend nicht so scharf, bei genauer
Analyse gar nicht präzisierbar.
Deduktion:
Eine Konsequenz der beschriebenen Grundstruktur einer physikalischen Struktur:
Die
deduktive Methode
steht ganz im Vordergrund: Sämtliche richtigen Aussagen der Theorie werden aus einem Satz von grundlegenden Prinzipien oder Axiomen hergeleitet, - wie in der Mathematik. Dabei sind die folgenden Forderungen zu erfüllen (z.B. [HA] Hamel, 1949):
1. Die Axiome müssen in sich widerspruchsfrei sein.
2. Die Axiome müssen vollständig sein.
3. Die Axiome sollen weitgehend unabhängig sein,
es sollen also keine Aussagen als Axiome gelten, die aus den anderen Axiomen
herleitbar sind.
Außerhalb der mathematischen Theorie:
4. Die Axiome und ihre Folgerungen dürfen nicht in Widerspruch zu Erfahrungstatsachen stehen.
Der Wert der deduktiven Methode und das beschriebenen Modells einer physikalischen Theorie liegt zum einen in der Klarheit, zum anderen aber auch in der Flexibilität. Bei einem auftretenden Widerspruch nach 4. muss nicht die ganze Theorie, sondern nur ein Teil der Axiome verworfen werden. Das Theoriegebäude wird nicht als Ganzes verworfen, sondern nur repariert.
Axiome haben in der Physik und in der Mathematik, trotz gleicher Formulierungen und derselben logischen Rolle unterschiedliche Bedeutung:
In der Physik: Ein Axiom ist ein grundlegendes Prinzip, es ist inhaltsschwer, es hat Bedeutung auch für die „intuitive“ Physik. Beispiele: Newtons Axiome zum Kraftbegriff, der Begriff Inertialsystem, das Hamiltonsche Prinzip, der Begriff Observable (in der Mechanik oder in der Quantenphysik), ...
In der Mathematik: Ein Axiom dient zur Präzisierung von Begriffen, es ermöglicht die eindeutige Kommunikation, so dass gewährleistet ist, dass zwei Benutzer eines vorgegebenen Begriffes in jeder Beziehung dasselbe darunter verstehen.
Die deduktive Methode und die hier vorgestellte
Beschreibung der Bestandteile einer physikalischen Theorie legt zunächst nahe,
dass man als Anwender, der die jeweilige Theorie nicht weiter in Frage stellt
und lediglich einige Aussagen folgern möchte, mit den mathematischen Begriffen
soweit umgehen können muss, dass er damit rechnen kann und zu überprüfbaren Zahlen
kommt.
Die Anwendungsvorschrift verlangt allerdings ein wenig
mehr: Die verwendeten mathematische Begriffe müssen in der Regel
verstanden worden sein.
Außerdem ist klar: Der Physiker, der auch an der Theorie
interessiert ist, insbesondere wenn er möglicherweise auch an einer
Modifikation der Theorie denkt, muss die verwendete Mathematik und mehr
vollständig verstanden haben. Das ist der Hintergrund, der Anlass gibt, den
Studierenden der Physik die Mathematik als Mathematik und nicht als ein Bündel
von Rechentechniken zu vermitteln.
Kontrast und Wechselspiel
zwischen Physik und Mathematik:
In der Forschung:
Mathematik:
·
Der
sichere Beweis,
·
das
vollständige Verstehen,
·
die hohe
Präzision der Definitionen und der Begriffe, letztlich auch als die Basis der
Kommunikation über Oblekte, die nicht sinnlich wahrnehmbar sind,
·
die
Unvergänglichkeit der Resultate (mathematische Ergebnisse werden nicht
verworfen, sie bleiben richtig, auch wenn sie aus der Mode kommen können.
Beispiel: ‚Knotentheorie’),
·
die
Freiheit der Begriffsbildungen (es gibt keine ‚Realität’, an der sich die
Mathematik messen muss, sie muss nur richtig sein. Allerdibgs ist nicht jede
richtige Mathematik interessant oder bedeutend.).
Physik:
·
Die
Dominanz der Idee,
·
die
Spekulation,
·
der
Wandel der Erkenntnisse, neue Theorien verdrängen ältere (Beispiel:
Knotentheorie als Theorie der Atome und Moleküle),
·
die
Kopplung zur Wirklichkeit,
·
weniger Aufwand
für Grundlegung und präzise Kommunikation, schon aus Zeitgründen.
Diese unterschiede werden auch manifest in der
wissenschaftlichen Anerkennung, die die Akteure erhalten:
·
In der
Mathematik: Der der’s zuerst beweist. Gelegentlich wird sogar ein weiterer
Beweis gewürdigt.
·
In der
Physik: Der der’s zuerst postuliert. Die Idee zählt.
Ideal in der Kombination:
Szenario: Physiker P. postuliert ein neues Prinzip, z.B.
in der Stringtheorie, oder kommt aufgrund physikalischer Intuition auf ein
Ergebnis; er wird dafür innerhalb der Physiker hoch eingeschätzt. In der
Mathematik ist das Prinzip (gegebenenfalls) eine sehr interessante Vermutung,
die ein Mathematiker M. nach großen Anstrengungen beweist. Dafür erhält M. bei
den Mathematikern große Anerkennung. – Beide sind glücklich.
Doch nun zur Mechanik anhand von elementaren Aspekten der
Theorie.
[Letzte Änderung: 13.5.2002]