1. Entwicklung und Lehre der Versicherungsmathematik



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1. Entwicklung und Lehre der Versicherungsmathematik

Die Versicherungsmathematik ist als eigenständige mathematische Disziplin noch recht jung, aber dafür im Mathematischen Institut der LMU München nahezu seit Anbeginn verankert. Vermutlich war Ferdinand Lindemann (1852-1939) der erste, der schon bald nach der Jahrhundertwende Vorlesungen zur Versicherungsmathematik hielt. Lindemanns Einfluß ist es wahrscheinlich zuzuschreiben, daß sich 1911 Friedrich Böhm (1885-1965) in der neuen Fachrichtung habilitieren konnte und so die Versicherungsmathematik an dieser Universität etablierte. Nach dem Vorbild des Göttinger Versicherungsseminars wurde noch im gleichen Jahr an der LMU das ,,Seminar für Statistik und Versicherungswissenschaft`` begründet und dem Privatdozenten Böhm übertragen. Beispiele aus seinen Vorlesungsthemen waren ,,Elemente der Versicherungsrechnung``, ,,Übungen zur Versicherungsmathematik`` oder ,,Einführung in die Probleme der Lebensversicherung (für Nationalökonomen und Mathematiker)``. Außerdem las er über Integralgleichungen und Statistik. 1920/23 erfolgte die Ernennung zum ,,nichtplanmäßigen außerordentlichen Professor für Mathematik bei der mathematischen Abteilung des mathematisch-physikalischen Seminars mit Abhaltung von Kursen und Vorlesungen zur mathematischen Ausbildung der Studierenden der Versicherungswissenschaften beauftragt und mit dem Lehrauftrag für versicherungswissenschaftliche Übungen im Seminar für Statistik und Versicherungswissenschaft``. Böhm betreute auch Dissertationen. Er, der längere Zeit der einzige Versicherungsmathematiker blieb, prägte dieses Gebiet über nahezu ein halbes Jahrhundert, zeitweise unterstützt von dem ehemaligen Präsidenten der Hamburger Feuerkasse Paul Riebesell (1883-1950), der der Universität ab 1938 als Honorarprofessor angehörte. Einen Namen erwarb sich Böhm aber auch durch seine beiden Lehrbücher über Versicherungsmathematik.

Als Böhm sich 1955 von seiner außerordentlichen Professur zurückzog, wandelte man sie in eine ordentliche Professur um und berief Hans Richter (1912-1978) nach München. Er gehörte von Anfang an als Ordinarius für ,,Mathematische Statistik und Wirtschaftsmathematik`` dem Mathematischen Institut an. Richter bemühte sich speziell um die damals noch junge Mathematische Stochastik, deren Brückenfunktion zwischen Theorie und Praxis ihm ein besonderes Anliegen war. Die Betreuung der Versicherungsmathematik im Rahmen des Lehrstuhls von Richter lag in den Händen von Lehrbeauftragten aus der Versicherungsbranche. Hasso Härlen (1903-1989) las ab 1955 Lebensversicherungsmathematik, später Karrer Pensionsversicherungsmathematik und nach Karrers Ausscheiden Robert Brückner (1907-1987) ab 1964 die gesamte Nicht-Lebensversicherungsmathematik.

Brückners Verpflichtung erwies sich als ausgesprocherner Glücksgriff. Ihm ist es vor allem zu verdanken, daß im Laufe der Jahre eine ganze Vorlesungsreihe in Versicherungsmathematik entstand, die praxisnah gelehrt wurde. Zur Lebensversicherungsmathematik und Pensionsversicherungsmathematik kamen die Vorlesungen Krankenversicherungsmathematik, Sachversicherungsmathematik, Mathematik der Sozialen Sicherheit und Versicherungsmathematische Fachliteratur hinzu. Neben den Vorlesungen führte Brückner Seminare zu aktuellen Themen der Versicherungsmathematik durch, prüfte zusammen mit Richter als Lehrstuhlinhaber das Fach Versicherungsmathematik im Rahmen der Angewandten Mathematik bei Diplomarbeiten. Zur praxisorientierten Ausbildung der Studenten organisierte er Exkursionen zu Versicherungsunternehmen und Besuche von Tagungen versicherungswissenschaftlicher Vereinigungen und Fachverbände der Versicherungswirtschaft. Seine guten Verbindungen zur Versicherungsbranche ermöglichten es ihm, seine Studenten als Praktikanten in den Semesterferien und seine Studienabgänger als Berufsanfänger in der Versicherungswirtschaft erfolgreich zu vermitteln. Brückner und auch Härlen wurden 1969 zu Honorarprofessoren ernannt.

Brückner gelang es, aus Führungspositionen der Versicherungswirtschaft weitere Lehrbeauftragte zu seiner Unterstützung zu gewinnen, denen er nach und nach einen Teil seines großen Arbeitsgebietes übertrug: Edgar Neuburger (Pensionsversicherungsmathematik), Hans Karl Jäkel (Krankenversicherungsmathematik) und Joachim Strauß (Sachversicherungsmathematik). Rainer von Chossy übernahm zusätzlich die Vorlesung Risikotheorie, und Gerhard Müller wurde Nachfolger von Hasso Härlen, als dieser 1974 altersbedingt ausschied.

Einen hohen Bekanntheitsgrad erreichte das von Brückner 1974 begründete Versicherungsmathematische Kolloquium (siehe 2.).

Nach dem Tode von Hans Richter wurde 1978 für den Nachfolger Peter Gänßler der Lehrstuhl für Mathematische Statistik und Wirtschaftsmathematik in den Lehrstuhl für Angewandte Mathematik (Statistik) umgewandelt und die Versicherungsmathematik aus der angewandten Mathematik in das Nebenfach ,,Versicherungswissenschaft`` verlagert, das auch korrespondierende Vorlesungen der Volks- und Betriebswirtschaftslehre vorsah. Die Betreuung der versicherungsmathematischen Vorlesungen lag dabei weiter bei Brückner und dem Kreis der Lehrbeauftragten für Versicherungsmathematik des Mathematischen Instituts.

1984 trat aus der Versicherungsbranche Günter Koch (*1931) die Nachfolge von Robert Brückner an. Mit seinen versicherungsmathematischen Praktika zur Lebens-, Kranken-, und Pensionsversicherung ergänzte er die Vorlesungsreihe in Versicherungsmathematik. Das Versicherungsmathematische Kolloquium, das er vorübergehend noch mit Brückner leitete und nach dessen Tod 1986 mit Ulrich G. Oppel (*1941) fortführte, wandelte sich unter seiner Regie von einer zunächst inneruniversitären Veranstaltung für fortgeschrittene Studenten zu einer Veranstaltung, die sich außer an Studenten und Dozenten auch mit großer Anziehungskraft an Mathematiker, Informatiker und Betriebswirte aus der Versicherungswirtschaft wendet (vgl. Ziff. 2). 1986 übernahm Koch auch die Vorlesung Lebensversicherungsmathematik von Gerhard Müller.

Koch reformierte den Studiengang ,,Diplom-Mathematiker mit Nebenfach Versicherungswissenschaft`` im Jahre 1988, nachdem an der Fakultät für Betriebswirtschaft zuvor auf Betreiben der Versicherungswirtschaft ein neuer ,,Lehrstuhl für Betriebswirtschaftliche Risikoforschung und Versicherungswirtschaft`` eingerichtet und mit Elmar Helten besetzt worden war, und initiierte einen weiteren Studiengang ,,Diplom-Mathematiker mit Nebenfach Versicherungsinformatik`` im Jahre 1989, als am Mathematischen Institut auch Vorlesungen der Informatik angeboten wurden. Beide Maßnahmen förderten die Attraktivität des Studiums der Versicherungsmathematik. Im Jahre 1994, nachdem die Fakultät für Mathematik ein eigenes Institut für Informatik begründete, initiierte Koch auch für Informatiker einen neuen Studiengang ,,Diplom-Informatiker mit Nebenfach Versicherungswirtschaft``. Alle drei Studiengänge wurden 1994 den erweiterten Anforderungen des EG-Binnenmarktes im Lehrangebot angepaßt und 1996 den Prüfungsbedingungen der Deutschen Aktuarvereinigung (DAV) e.V. sowie der neuen Studienordnung der Fakultät für Betriebswirtschaft angeglichen, so daß heute für die Absolventen am Mathematischen Institut bis zu fünf von sechs Aufnahmeprüfungen bei der DAV entfallen.

Wie zuvor Brückner organisiert auch Koch für die Studenten der Versicherungsmathematik Exkursionen zu Versicherungsunternehmen sowie Tagungsbesuche zu versicherungswissenschaftlichen und versicherungsmathematischen Vereinigungen. Bis dato konnten auch alle Studenten mit Ferienjobs und alle Absolventen mit Anstellungen in der Versicherungsbranche versorgt werden.

Jährlich einmal findet ein Treffen der Dozenten der Versicherungsmathematik statt, auf dem geplante Neuerungen und durchgeführte Maßnahmen erörtert und die vielbeschäftigten und hochrangigen Praktiker stärker eingebunden werden.

Koch gelang es, Ulrich G. Oppel für die Versicherungsmathematik ganz zu gewinnen. Nachdem Oppel 1986 mit in die Leitung des Versicherungsmathematischen Kolloquiums eingetreten war, bot er im Rahmen der Angewandten Mathematik erstmals ab 1989 für Studierende im Hauptstudium Vorlesungen und Seminare zu ausgewählten Kapiteln moderner Finanz- und Versicherungsmathematik an, die beispielsweise Methoden stochastischer Finanzmathematik, Risikotheorie, Schätzverfahren, ökonomische Prozesse, optimale Strategien, kausal-probabilistische Expertensysteme u.a.m. umfassen. Diplomarbeiten werden sowohl in den Nebenfächern Versicherungswissenschaft und Versicherungsinformatik als auch in der Angewandten Mathematik zu Themen der Versicherungsmathematik vergeben.

1992 wurde die Professur für Mathematik von Ulrich G. Oppel durch Erweiterung des Aufgabengebietes in ,,Professur für Mathematik und Versicherungsmathematik`` umbenannt. An der LMU wurde damit erstmals wieder nach 15 Jahren die Versicherungsmathematik innerhalb des Fachbereichs Mathematik verankert. Lehrbeauftragte aus der Versicherungswirtschaft sind zur Zeit: Günter Koch (Lebensversicherungsmathematik), Edgar Neuburger (Pensionsversicherungsmathematik), Hans Joachim Werner (Krankenversicherungsmathematik), Thomas Mack (Sachversicherungsmathematik), Hans Zierer (Informationsverarbeitung in der Versicherungsunternehmung), Rainer von Chossy (Risikotheorie), Manfred Feilmeier und Günther Segerer (beide Versicherungsmathematisches Kolloquium).


Hauber
Wed Nov 20 16:14:16 MET 1996