Mathematisches Fachstudium in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts



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Mathematisches Fachstudium in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts

Bei Vorlesungsbeginn im Juni 1800 in Landshut hatte die Universität rund 900 Studenten. Unter dem Einfluß Napoleons wurden die Fakultäten vorübergehend aufgelöst und dafür acht wissenschaftliche Sektionen eingerichtet - in wechselnder Reihenfolge. Das Vorlesungsverzeichnis vom Sommersemester 1800 nennt die Sektionen in folgender Anordnung:

I.
Historische Wissenschaften
II.
Mathematische Wissenschaften
III.
Philosophische Wissenschaften
IV.
Physikalische Wissenschaften
V.
Medizinische Wissenschaften
VI.
Positive Rechtswissenschaften
VII.
Positive Religionswissenschaften
VIII.
Philologie
IX.
,,Freye Künste (Malen, Fechten, Reiten, Tanzen)``

Die Sektionen I bis IV und VIII waren aus der Philosophischen Fakultät hervorgegangen. Die Vorrangstellung der mathematischen, der historischen und der physikalischen Sektion ist nicht zu übersehen. Doch galt dies nur vorübergehend, solange Napoleons Vorliebe für Geschichte und Mathematik einflußreich war.

1802 wurde der Alma mater mit großen Feierlichkeiten zu Ehren des Begründers (Ludwig des Reichen) und des Neustifters (Kurfürst Maximilian IV. Joseph) der Name ,,Ludwig-Maximilians-Universität`` verliehen. Die Öffnung der Universität und der Grenzen Bayerns führte nicht nur zu einer Beeinflussung durch das französische, sondern auch durch das sich neu formierende preußische Bildungswesen. Konrad Stahl (1774-1833), der 1806 Ordinarius für Mathematik und Physik wurde, hatte während der Blütezeit des Idealismus neben Fichte, Schelling und Hegel in Jena gelehrt. Bereits 1803 hatte Montgelas mehrere Protestanten aus Jena nach Bayern berufen, darunter auch Friedrich Wilhelm Schelling (1775-1854) [Uebele, S.167]. (In Preußen war das Lehrpersonal erst ab 1841 konfessionell gemischt). 1810 kam es zur Gründung der Berliner Universität. Die Universitätsidee Humboldts, zu der die Verbindung von Forschung und Lehre gehört, beeinflußte auch die Ludwig-Maximilians-Universität.

1808 wurden die universitären Lehramtsprüfungen pro facultate docendi für Lehrer an höheren Schulen eingeführt. Während das Lehramt an höheren Schulen bis dahin vor allem ein Durchgangsstadium für Theologen war, wurde mit dem entsprechenden Lehrerbildungsgesetz neben den Theologen, Juristen und Ärzten ein neuer akademischer Beruf geschaffen: der des Philologen, des wissenschaftlich ausgebildeten Gymnasiallehrers. Durch die Säkularisierung der Lehrerausbildung verschwanden zugleich die Ordensgeistlichen aus den philosophischen Fakultäten.

Mit der Neuorientierung des Gymnasiums wurde ihm auch die bisherige Aufgabe der Philosophischen Fakultät übertragen, vor dem Hauptstudium für eine solide Allgemeinbildung zu sorgen. Die Ausbildung der Gymnasiallehrer stellte bis zur Mitte des 20.Jahrhunderts die Hauptaufgabe der Philosophischen Fakultät dar. Ohne die Lehramtsstudenten hätte sich der Lehrbetrieb sicherlich zurückhaltender entwickelt und möglicherweise auch in mehr technischer Richtung. Obwohl Martin Ohm bereits 1832 einen entsprechenden Antrag eingereicht hatte, kam es erst 1856 zur definitiven Einrichtung eines mathematisch - physikalischen Seminars. Aus diesem Lehrerbildungsseminar ging das heutige Mathematische Institut hervor. In den Statuten des Seminars heißt es:

,,§ 1. Der Zweck des Seminars ist die Ausbildung von Lehrern für Mathematik und Physik an höheren Lehr-Anstalten``.

Bemerkenswert ist, daß durch die Lehrerbildung im 19.Jahrhundert gerade die Entwicklung der reinen Mathematik gefördert wurde. Man möchte hier fragen: In welcher Richtung hat sich damals die reine Mathematik an der Ludwig-Maximilians-Universität entwickelt? Während Maurus Magold (1761-1837) in seinen verbreiteten Lehrbüchern den überlieferten Fächerkanon des 18.Jahrhunderts ausgestaltet hat, setzte sein Kollege Stahl den Akzent auf die Analysis. Unter Analysis verstand man damals die Untersuchung elementarer Funktionen und die Theorie unendlicher Reihen. Dieser auf der Analysis liegende Schwerpunkt ist bis heute nicht verlorengegangen.

1826 wurde die Universität nach München verlegt. Bis zur Einweihung des nach fünfjähriger Bauzeit 1840 fertiggestellten Neubaues an der Ludwigstraße war die Universität 14 Jahre provisorisch im ehemaligen Jesuitenkolleg an der Neuhauser Straße, neben der St. Michaelskirche, untergebracht. Der einsetzende Aufschwung ließ die Universität auf über 1900 Studenten - im Jahr 1831 - anwachsen. Damit gehörte bereits damals die Universität neben Berlin und Leipzig zu den größten in Deutschland. So hatte in diesem Jahr München 40, Berlin 37 Ordinarien. Der erwähnten Idee Humboldts entsprechend kam es nun auch vermehrt zur Wahrnehmung von Forschungsaufgaben. Auf den Lehrstuhl von Magold wurde 1826 der 67jährige praxisorientierte Johann Späth (1759-1842) für reine und angewandte Mathematik berufen. Von seinen 72 Arbeiten sind besonders seine Lehrbücher über Geodäsie und Forstwirtschaft bekannt geworden. Er las bis zu seinem 83.Lebensjahr. Bemerkenswert ist für die Münchner Universität zudem die Einrichtung eines vierjährigen mathematischen Fachstudiengangs bereits im Jahre 1836. Die Studienordnung gibt dazu einen recht umfangreichen Studienplan an. Das war selbst gegenüber Berlin oder Königsberg eine Besonderheit. Er ist in den ersten beiden Studienjahren eher konservativ orientiert und führt in den letzten beiden Studienjahren an neue Entwicklungen heran:

Spezialstudium der Mathematik

Erstes Jahr.

  1. Encyclopädie und Methodologie des akademischen Studiums und der Wissenschaften.
  2. Allgemeine Fächer der Philosophie, Geschichte, Philologie und der Naturwissenschaften.
  3. Wiederholung und weitere Begründung der Elementarmathematik.
  4. Studium der Elemente des Euklides im Original.

Zweites Jahr.

  1. Studium der Werke des Archimedes und Apollonius von Perga.
  2. Höhere Arithmetik. Theorie der Funktionen nebst Combinations-Lehre, Differenzial- und Integral-Calcul.
  3. Spezielle Studien der Physik.

Drittes Jahr.

  1. Studium der Werke neuer Mathematiker.
  2. Höhere und analytische Geometrie, Theorie der Kegelschnitte, descriptive [= darstellende] Geometrie.
  3. Ethik, Pädagogik, Methodik des wissenschaftlichen Studiums der Mathematik.

Viertes Jahr.

  1. Studium der Werke neuerer Mathematiker.
  2. Angewandte Mathematik, besonders Mechanik und Astronomie.
  3. Geschichte der Mathematik.

1826 wurde neben den Lehrstühlen von Stahl und Späth ein weiterer Lehrstuhl eingerichtet - ``für Mathematik und Naturwissenschaft`` -, auf den Thaddäus Siber (1774-1854) berufen wurde. 1833 wurde dieser Lehrstuhl in einen für Physik umgewidmet. Siber, der durch mehrere mathematisch-physikalische Lehrbücher hervortrat, arbeitete besonders auf dem Gebiet der Meteorologie und der Wissenschaftsgeschichte. Wiederholt war er Dekan der Philosophischen Fakultät und Rektor der Universität [Uebele, S.116]. 1852 gab er mit 77 Jahren seinen Lehrstuhl an Georg Simon Ohm (1789-1854) ab.


Hauber
Wed Nov 20 16:14:16 MET 1996