§ 32 Raum und Zeit. Inertialsysteme

         

 

In diesem Paragrafen und den folgenden soll herausgearbeitet werden, wie die im letzten Semester erarbeiteten Begriffe und Resultate der Linearen Algebra in der Klassischen Mechanik verwendet werden. Dabei sollen nicht einfach ein paar generelle Hinweise in Form von Stichworten wie zum Beispiel

 

          ‚Koordinatentransformationen’,

          ‚Symmetriegruppe’, ‚Drehgruppe’, Galileigruppe’,

          ‚Galileiinvarianz’,

          ‚infinitesimale Drehungen’,

          ‚Rotierende Bezugssysteme’,

          ‚Trägheitstensor und Haupachsentransformation’, etc.

 

mit kurzen Erklärungen gegeben werden, sondern es soll ein Teil der Theorie im Sinne von § 31 beschrieben werden.

 

Die ersten Axiome (der mathematischen Theorie M zur Mechanik W ) betreffen den Raum, in dem sich die Bewegungen von Massenpunkten und massiven Körpern abspielen. (Der Begriff Massenpunkt wird hier nicht erklärt, ebenso wenig der Begriff des massiven Körpers.) Dabei wird der Begriff der Bewegung mitentwickelt. Der Gegenstand der Klassischen Mechanik ist in einer ersten, etwas engen Sicht nichts anderes als das Studium der Struktur solcher Bewegungen.

 

Vorbetrachtung:

 

Als Vorbetrachtung ziehen wir uns kurz zurück auf das, was wir von der Analysis kennen: Eine naive aber auch überaus effiziente Art der Beschreibung von Bewegungen eines Punktes ist die Angabe einer „Kurve“

         

auf einem Intervall mit Werten in einem  . Dabei kann der Parameter 

           

die Rolle der Zeit übernehmen, es kann aber auch ein beliebiger Evolutionsparameter sein. Im Falle der Bewegung eines Massenpunktes wird man n = 3 erwarten, die Zahl der Freiheitsgrade, oder n = 6, wenn die Geschwindigkeiten oder die Impulse mit berücksichtigt werden. Die Zahl n kann allerdings durch Zwangsbedingungen kleiner als 3 bzw. 6 sein (vgl. § 36). Für Systeme von Massenpunkten wird n in der Regel  größer als 3 sein, bei N Massenpunkten typischer Weise 3N oder 6N.

 

Die instantane zeitliche Veränderung der Bewegung, also die Geschwindigkeit von y(t) ist einfach die Ableitung

         

für differenzierbare y, die Beschleunigung ist

          ,

falls y zweimal differenzierbar ist.

 

Eine gleichförmige, geradlinige Bewegung in dieser Schreibweise (und in Bezug auf die von  gegebenen Koordinaten) ist eine Bewegung y = y(t) , die

 

         

erfüllt mit (konstanten) Vektoren v und w aus  .

 

Im allgemeinen führt ein in der Klassischen Mechanik gegebenes Problem zu einer Differentialgleichung (genauer: zu einem Anfangswertproblem einer Differentialgleichung) der Form

 

         

 

wobei die Abbildung    auf einer offenen Teilmenge  U  des  definiert ist.

Die Lösungen des Anfangswertproblems sind genau die Bewegungen. Dabei ist eine zweimal differenzierbare Kurve

         

eine Lösung das Anfangswertproblems, wenn für alle

         

stets

         

gilt sowie

 

         

 

Das Ziel der Bemühungen der Klassischen Mechanik ist die Kenntnis über die Struktur und über das qualitative Verhalten der Gesamtheit der Lösungen, dh. Bewegungen solcher Differentialgleichungen.

 

Physik daran ist das Umfeld (Zeit, Raum, Koordinaten, Kraft, Trägheit, Zwangsbedingungen, ... ) und damit verbunden die Aufstellung der richtigen Differentialgleichungen, sowie physikalisch orientierte Lösungsansätze.

 

Klassische Mechanik = Lösungstheorie der gewöhnlichen Differentialgleichungen 2. Ordnung:

 

Hat man die Differentialgleichung, so läuft die Theorie auf die Lösungstheorie der Differentialgleichung hinaus. Bei stetig differenzierbarem G hat man aufgrund von Ergebnissen der Mathematik rein theoretisch ein gutes Verhalten der Lösungen:

 

          Existenz, Eindeutigkeit und lokale Stabilität

 

der Lösungen, also der Bewegungen, sind gewährleistet.

Das ist aber nicht das Thema dieser Vorlesung (vgl. aber Analysis III).

 

Koordinaten?

 

In dieser Vorlesung soll motiviert werden, wie man überhaupt prinzipiell zu den Differentialgleichungen kommt. das fängt schon an mit der Frage, wo die Koordinaten herkommen.

 

Es gehört zu den Erfahrungen der Physik, dass es keine absoluten Koordinaten, auch nicht in der Klassichen Mechanik, gibt! Es gibt keinen absoluten Raum, auch wenn Newton ihn gefordert hat!

 

Man möchte z.B. „kräftefrei“ mit gleichförmig, geradliniger Bewegung gleichsetzen. Die oben vorgeschlagene Definition gibt aber nur Sinn bezüglich der dort gewählten (zunächst unphysikalischen) Koordinaten. Stellt man sich vor, diese Koordinaten als „in Ruhe“ wählen zu können, so hat man einen absoluten Raum gefordert.

 

Die Lösung aus diesem Dilemma ist die Forderung nach der Existenz einer Klasse von speziellen Inertialsystemen, das sind Koordinatensysteme, die sich relativ gleichförmig und geradlinig zueinander bewegen. Die Klasse der Inertialsysteme dient dann als Ersatz für den absoluten Raum.

 

Raum:

 

(32.1) Axiom: Der Raum E ist ein dreidimensionaler, orientierter, euklidischer Raum.

 

In diesem „koordinatenfreien Raum“, dem Grundraum der Klassischen  Mechanik, befindet sich jeweils ein Massenpunkt bzw. ein System von Massenpunkten.

 

Der Grundraum E besteht daher aus (vgl. Vorlesung des letzten Semesters):

 

·   E       (Menge der möglichen „Positionen“)

·   V       (R-Vektorraum der Translationen, dim V = 3)

·      (Wirkung von V auf E, dh. , so dass die Wirkung von  treu und transitiv ist, dh. .

·   V besitzt ein euklidisches Skalarprodukt , dh. g ist bilinear, also in beiden Argumenten jeweils linear, g ist symmetrisch und g ist positiv definit.

·   V ist orientiert, dh. eine der beiden Äquivalenzklassen von Basen von V (die „Orientierungsklasse“) ist ausgezeichnet. Die Äquivalenzrelation dazu im Falle dim V = n:
.
(Vgl. § 34)

 

Die vollständige Beschreibung der wesentlichen Bestandteile des Raumes ist also

          (E, ,V,g,[B]),

und E ist nur eine Abkürzung für die Objekte dieses Quintupels.

 

Notationen:

 

 

Weitere „Räume“ die in der Behandlung von Aufgaben der Klassischen Mechanik auftreten:

           

und Teilräume bzw. Untermannigfaltigkeiten davon.

 

Zeit:

 

(32.2) Axiom: Die Zeit wird durch einen eindimensionalen, orientierten euklidischen Raum T beschrieben.

 

Also ist (T, ,W,h,[B]) gegeben.

W wird meist direkt mit den reellen Zahlen R identifiziert (ohne Längenangabe und ohne die natürliche Anordnung).

Das Skalarprodukt zu T entspricht der Vorgabe der Länge  r > 0  von z.B. 1 in W:

          <1,1> = r = <-1,-1>

Die Orientierung entspricht der Wahl einer der zwei Richtungen in W: Die Richtung, die durch aufsteigend (in der ursprünglichen Ordnung von R ) gegeben wird oder der Richtung absteigend.

 

Jedem Zeitpunkt t aus T entspricht ein Raum der Eigenschaften aus 32.1. Insofern müsste statt E eigentlich E(t) oder Et geschrieben werden. Mehr dazu in Kürze.

 

 

 

 


          
[Letzte Änderung: 13.5.2002]

Martin Schottenloher (martin.schottenloher@mathematik.uni-muenchen.de)