Mit dem neuen Integral endete aber auch eine Entwicklung, die im ver- 
gangenen Jahrhundert mit der exakten Definition eines Integrals für 
stetige Funktionen durch Augustin Louis Cauchy begann. Die daran an- 
schließende Geschichte des Integralbegriffs ist besonders deshalb 
so faszinierend, weil der praktische Wunsch, Funktionen in Fourierreihen 
zu entwickeln, zu einer Fülle von Überlegungen führte auf 
denen heute die reine Mathematik aufbaut. Dazu gehören der Funktions- 
begriff selbst, der Mengenbegriff, Abzählbarkeit, Nullmengen, Kompaktheit. 
Die meisten dieser Fragen entzündeten sich anhand des Integrierbarkeits- 
begriffs von Bernhard Riemann und fanden erst in Lebesgues Theorie eine 
befriedigende Lösung. 
  Umso erstaunlicher ist es, daß fast einhundert Jahre danach das Wort 
"Integral" in den (Hoch-)Schullehrplänen immernoch identifiziert wird 
mit dem Namen Riemanns. Dabei wird das eigentliche Verdienst Riemanns um den 
Integralbegriff, nämlich seine beiden Integrabilitätskriterien, 
meist garnicht erwähnt, sondern ein erst nach seinem Tode entstandenes 
und zum Beispiel von Gaston Darboux verbreitetes Kriterium als Riemanns 
Definition ausgegeben, ebenso wie die bereits von Cauchy eingeführten 
"Riemannsummen". Dies läßt sich, außer mit Chauvinismus, 
nur mit der theoretischen Bedeutung erklären, die der Riemannsche Integral- 
begriff im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts bei der Herausbildung des 
letztendlich erfolgreichen Lebesgueschen Integrals hatte. Viele Mathematik- 
studenten begegnen dem Lebesgueschen Integral, wenn überhaupt, nur in 
"Abrissen", "Anhängen" oder gar "Steilkursen". Durch die einfache Frage 
"Was ist eine lokal integrierbare Funktion?" läßt sich Spreu von 
Weizen leicht trennen. Die offenbare Scheu vieler Dozenten und Autoren vor 
einer ordentlichen Präsentation des Integrals wird oft begründet 
mit der "schwierigen" Maßtheorie, die dazu nötig sei. Tatsäch- 
lich ist sie zunächst weder notwendig noch schwierig, höchstens 
lästig - für Spezialisten nicht einmal das. 
  Die Ziele dieser Vorlesung sind daher eine historisch fundierte Einführung 
in die Idee des Lebesgueschen Integrals und eine weitgehende Bereitstellung 
seiner wichtigsten Eigenschaften mit vollständigen Beweisen, wobei 
Hilfsmittel erst dann bereitgestellt werden sollen, wenn sie wirklich ge- 
braucht werden. Dabei wird nicht versucht, den vollen Umfang einer Vorlesung 
über Maß- und Integrationstheorie abzudecken, wie er zum weiteren 
Studium der Wahrscheinlichkeitstheorie notwendig wäre; zur Vorbereitung 
und Motivation einer solchen Beschäftigung sollte sie aber geeignet sein. 
Stattdessen beschränkt sie sich auf die Theorie in R^d und, aufgrund 
persönlichen Geschmacks, auf einige typische Anwendungen in der Theorie 
der partiellen Differentialgleichungen. 
  Das einleitende Kapitel 0 stellt die historische Entwicklung des Integral- 
begriffs für auf einem kompakten Intervall in R definierte,
beschränkte 
reelwertige Funktionen dar. Das zentrale Kapitel 1 bietet eine (hoffentlich) 
vollständige und (bestimmt) elementare Einführung in das Lebesgue- 
sche Integral in R^d bis hin zu den Grenzwert- und Vertauschungssätzen, 
sowie der Transformationsformel. Das abschließende Kapitel 2 ist den 
Anwendungen der Theorie des Lebesgueschen Integrals gewidmet; hierzu ge- 
hören die Lebesgue- und Sobolewräume und Distributionen. 
Ein ausführliches und kommentiertes Literaturverzeichnis liegt vor.
Folgende Themen wurden behandelt:
Kapitel 0. Was sind und was sollen die Integrale?
1. Die Quadratur des Kreises 
2. Das Problem der Bestimmung von Stammfunktionen 
3. Das (Cauchy-)Integral für stetige Funktionen 
4. Das (Dirichlet-)Integral für nichtstetige Funktionen 
5. Das (Riemann-)Integral für beschränkte Funktionen 
6. Die Reichweite des Riemann-Integrals 
7. Das Lebesgue-Integral für beschränkte Funktionen auf [a,b] 
Kapitel 1. Das Lebesgue-Integral in R^d
8. Treppenfunktionen 
9. Definition des Lebesgue-Integrals 
10. Grenzwertsätze 
11. Meßbarkeit 
12. Die Transformationsformel 
Kapitel 2. Anwendungen des Lebesgue-Integrals
13. Die L_p-Räume