Die Konstituierung von Forschung und Lehre in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts



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Die Konstituierung von Forschung und Lehre in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts

Durch die Berufung von Dozenten der Königsberger Schule wurde das mathematische Leben an der Münchner Universität in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts in besonderer Weise nachhaltig bereichert. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch die von Maximilian II. (1811-1864; ab 1848 König von Bayern) angeordnete Reform der Universitätssatzung (1849), die zu einem Aufschwung der Universität und insbesondere der Naturwissenschaften führte [Uebele, S.17]. An diesem Aufschwung waren im Bereich der Mathematik Philipp Ludwig Seidel (1821-1896) und Gustav Bauer (1820-1906) maßgebend beteiligt.

Beide wirkten jeweils über drei Jahrzehnte auf ihren Lehrstühlen. Seidel hatte bei Dirichlet und Jakob Steiner in Berlin und bei Jacobi und Bessel in Königsberg studiert. Wie Lindemann in einem Nachruf schreibt, war Seidel ,,der erste, der in Bayern das wissenschaftliche Studium der Mathematik einführte`` [Toepell, 5.1.2]. Ab 1847 ergänzte Seidel die üblichen weitgehend elementarmathematischen Vorlesungen durch neue Themen, zum Beispiel über Reihenentwicklungen, Kettenbrüche und Wahrscheinlichkeitsrechnung. Als mathematisch hervorragende Leistung werden Seidels Untersuchungen zur gleichmäßigen Konvergenz angesehen. Bereits 1826 hatte Abel auf ein erstes Beispiel für eine gleichmäßig konvergente Funktionenfolge hingewiesen. Der Begriff der gleichmäßigen Konvergenz erhielt später durch Weierstraß seinen festen Platz in der Analysis. 1870 fand Seidels Studienkollege Heine entsprechend den Begriff der gleichmäßigen Stetigkeit einer Funktion. Daneben verstand es Seidel, auch technische Gesichtspunkte zu berücksichtigen. Die Verbindung zur Technik war vielfach enger als heute - eine Folge der führenden Rolle, die die angewandte Mathematik an der Universität vor allem bis zur Gründung der Technischen Hochschule (1868) spielte.

1864 wurden die ersten vier Realgymnasien in Bayern gegründet. Hier wurde die Mathematik mit sieben bis acht Wochenstunden besonders intensiv gepflegt. Dadurch konnte die Hochschulmathematik allmählich vom elementaren Unterricht entlastet werden, was die wissenschaftliche Entwicklung gefördert hat. Zu den Exponenten, die das mathematische Leben in München nachhaltig beeinflußten, gehörte Felix Klein (1849-1925), der 1875 an die ,,Königlich Polytechnische Schule``, die spätere Technische Hochschule (heute Technische Universität), berufen wurde und dort eine Reihe von Neuerungen einführte, ehe er 1880 nach Leipzig wechselte. Da die Technische Hochschule erst 1901 das Promotionsrecht erhielt, mußten ihre Doktoranden an der Ludwig-Maximilians-Universität promovieren. Dadurch bestand eine zusätzliche Verbindung zwischen beiden Hochschulen. So hat etwa 1878 der spätere Königsberger Ordinarius Franz Meyer bei Klein, Brill, Seidel und Bauer promoviert.

Nicht nur die Zusammenarbeit mit der Technischen Hochschule, sondern auch der Kontakt zu den höheren Schulen wurde damals bewußt gepflegt. Durch das Staatsexamen, das die übliche Abschlußprüfung darstellte, hatte nahezu jeder Hochschullehrer die Lehrbefugnis für das Gymnasium. Universitätsdiplome in Mathematik wurden 1942 eingeführt und fanden erst nach dem zweiten Weltkrieg Verbreitung. Einer Reihe von Hochschullehrern, die zunächst am Gymnasium tätig waren, kam die dort gesammelte Lehr- und Unterrichtserfahrung in ihrer Universitätslaufbahn zugute.

Im Laufe des 19.Jahrhunderts fächerte sich die Philosophische Fakultät als weitaus größte Fakultät vor allem durch die Entwicklung der Naturwissenschaften immer weiter auf. Ende der 70er Jahre besuchten über 40% der Studierenden allein die Philosophischen Fakultäten. So war es schon 1865 zur Teilung dieser Fakultät in zwei Sektionen gekommen - in eine philosophisch-historische und eine mathematisch-naturwissenschaftliche Sektion. Zu welcher Sektion die Mathematik gehören sollte, war zunächst nicht kanonisch. Von ihren Anwendungen her stand sie den Naturwissenschaften, von ihrer Ausbildungsfunktion her den Geisteswissenschaften nahe. Das war einer der Gründe, weshalb in München erst 1937 aus der zweiten Sektion eine selbständige Naturwissenschaftliche Fakultät gebildet wurde, aus der dann wiederum 1971 die heutigen fünf Naturwissenschaftlichen Fakultäten (darunter die Fakultät für Mathematik) hervorgingen.

Während Stahl und sein Nachfolger Johann Hierl (1791-1878) sowohl mathematische als auch physikalische und meteorologische Vorlesungen gehalten haben, wurde - nach der Gründung der Technischen Universität - mit der Übernahme dieses Lehrstuhls durch Gustav Bauer die Trennung in mathematische und physikalische Lehrstühle endgültig vollzogen. Damit kam es auch zur Spezialisierung der beiden mathematischen Lehrstühle. Bauer arbeitete über das damals neue Gebiet der Kugelfunktionen, über Kettenbrüche, Geometrie und Algebra. In der Algebra gehörte er in Deutschland zu den frühen Anwendern der von Galois begründeten Substitutionentheorie, der heutigen Galois-Theorie. Bauer ist daher als der Begründer der algebraischen Schule in München anzusehen. Sein verbreitetes Lehrbuch ,,Vorlesungen über Algebra`` wurde mehrfach neu aufgelegt und diente jahrzehntelang als Studiengrundlage. Auf Bauer geht auch die in der Quantenmechanik verbreitete Entwicklung einer Funktion nach Partialwellen zurück.

Ab 1878 übernahm Alfred Pringsheim (1850-1941) - der spätere Schwiegervater von Thomas Mann - zunächst als Privatdozent, ab 1886 als Extraordinarius vor allem die funktionentheoretischen Vorlesungen. Dabei vertrat er die damals in München noch ungewohnte, sich aber bald allgemein durchsetzende Forderung von Weierstraß, den formal-logischen Aufbau gegenüber anschaulichen Gesichtspunkten stärker zu berücksichtigen. Perron sah in Pringsheim gar den ,,eifrigsten und erfolgreichsten Propagandisten der Funktionentheorie Weierstraßscher Prägung in Deutschland``. 1901 wurde an der Universität für Pringsheim ein drittes Ordinariat geschaffen. Er hat in München bis 1923 insgesamt 45 Jahre lang gelesen, neben Funktionentheorie unter anderem auch über Differentialgleichungen, elliptische Funktionen, Fourierreihen, ,,neuere`` Algebra, Zahlentheorie und unendliche Reihen.

Nach der Emeritierung Seidels erging 1892 ein Ruf, der Geschichte machte, an Felix Klein. Da man München, das in Konkurrenz zu Berlin stand, zu einem zweiten mathematischen Zentrum in Deutschland ausbauen wollte, hatte man diesen Ruf außergewöhnlich hoch dotiert, was Klein zu schätzen wußte. Auch stand er allein auf der Liste. Das hat Klein ermöglicht, zur Rufabwendung einen überaus großzügigen Vertrag mit dem preußischen Kultusministerium zu vereinbaren, mit dessen Hilfe Klein anschließend Göttingen zum mathematischen Weltzentrum ausgebaut hat. Dabei war, wie Klein schreibt, die preußische Regierung ,,viel weiter gegangen``, als er vermutet hatte. Klein lehnte den Ruf ab und es kam - ein Jahr später - sein Schüler Ferdinand Lindemann (1852-1939) nach München. Lindemann war 1882 durch den Transzendenzbeweis von weithin bekannt geworden und durch die Herausgabe der Geometrie-Vorlesungen von Clebsch hervorgetreten. Als Lindemann 1893 aus Königsberg kommend in München eintraf, erschien ihm allerdings - wie er in seinen Lebenserinnerungen beklagt - ,,die Mathematik an der Münchener Universität vollständig vernachlässigt``. Aufgrund seiner Initiative wurden ein Seminarraum und Mittel zum Aufbau einer Seminarbibliothek zur Verfügung gestellt. Neben dem dritten Ordinariat wurden in seiner Amtszeit 1903 eine außerordentliche Professur für darstellende Geometrie und 1920 ein drittes Extraordinariat eingerichtet. Dazu kam 1906 eine erste planmäßige Assistentenstelle. Lindemann war 1904/05 Rektor der Universität. Sein Wirken über die Grenzen der Universität hinaus dokumentiert sich nicht zuletzt an der Zahl seiner Schüler. Von seinen sechzig Doktoranden - einer von ihnen, David Hilbert, hatte mit 69 nur wenig mehr - promovierten zwischen 1894 und 1920 allein 42 in München. Aus der Königsberger Zeit gehörten neben Hilbert auch Hermann Minkowski und Arnold Sommerfeld (1868-1951; lehrte von 1906 bis 1935 an der Universität München) dazu. Nachdem Bauer emeritiert war und Hilbert einen Ruf nach München abgelehnt hatte, wurde von Lindemann und Pringsheim 1903 Aurel Voss (1845-1931) aus Würzburg berufen, und es kam zu einem rund zwanzigjährigen gemeinsamen Wirken.

Blickt man zurück auf das 19.Jahrhundert, so zeigen sich drei Entwicklungsströmungen besonders ausgeprägt:

- Die Universität wurde auch zu einer Forschungseinrichtung.

- Durch die Ausgliederung der Angewandten Mathematik von der Mutteruniversität an die Technische Hochschule hat man sich in der Folgezeit besonders der reinen Mathematik zugewandt.

- In der Lehre wurde die Ausbildung der Gymnasiallehrer zu einem Schwerpunkt. Dieser Schwerpunkt führte zur Einrichtung des Mathematisch-Physikalischen Seminars, der Keimzelle des heutigen Mathematische Instituts.

Dabei hat man neben dem Lehramtsstudium auch die tätigen Mathematik- und Physiklehrer an höheren Schulen nicht vergessen. Ebenso wie ab 1892 in Göttingen durch Felix Klein, so wurden ab 1898 auch in München für sie Fortbildungs-Ferienkurse eingerichtet.


Hauber
Wed Nov 20 16:14:16 MET 1996