Würfelt Gott? Und wenn ja, wann?

Noch immer streiten Physiker über den Zufall in der Quantenmechanik, der schon Albert Einstein missfiel

``Gott würfelt nicht'', soll Albert Einstein aus Unzufriedenheit mit der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik gesagt haben, in der erst der Beobachter den Zustand des Systems festlegt. Einstein stellte sich vor, dass das Universum deterministisch ist, dass also der heutige Zustand der Welt ihren morgigen Zustand vollständig festlegt. Wenn uns Dinge zufällig erscheinen, so kann das nur an unserer Unkenntnis des genauen Anfangszustandes liegen, glaubte der weltberühmte Physiker.
   Ob Einstein damit auch in der Quantenmechanik recht behält, ist immer noch offen, wie eine Tagung über ``Zufall in der Physik'' kürzlich auf der Insel Ischia bei Neapel deutlich machte. Zwar kennt man heute viel präzisere Interpretationen der Quantenmechanik als die etwas obskure Kopenhagener Deutung aus den 20er-Jahren, doch gibt es eben mehrere Interpretationen, und gerade hinsichtlich des Ursprungs des Zufalls gehen die Vorschläge stark auseinander.
   Manche favorisieren das deterministische Modell von David Bohm aus den 50er-Jahren, das ganz im Sinne Einsteins den Zufall auf Details des Anfangszustandes zurückführt. Andere bevorzugen die Idee von Ghirardi, Rimini und Weber aus den 80er-Jahren. Darin lässt die Natur zu zufälligen Zeitpunkten die so genannte Wellenfunktion, die wichtigste mathematische Funktion in der Quantenmechanik, einen Sprung ausführen; außerdem muss per Zufall entschieden werden, wohin überhaupt gesprungen wird. Dieser Vorstellung zufolge muss Gott nicht nur würfeln: Es kommt sogar darauf an, dass er zum richtigen Zeitpunkt würfelt und nicht etwa nur den Anfangszustand beim Urknall festlegt. Ein weiteres Modell, von Edward Nelson in den 60er-Jahren entworfen, sieht vor, dass die Teilchenbahnen ständig zufälligen Schwankungen unterliegen -- Gott als Dauerwürfler also.

Verständnis ist Privatsache

``Gegenwärtig ist das Verständnis der Wahrscheinlichkeiten eher Privatsache'', stellte Detlef Dürr von der Universität München fest: ``Wir wollten klare Vorstellungen erarbeiten.'' In Vorträgen wurden die verschiedenen physikalischen Ansätze und philosophischen Konzepte vorgestellt, in sechs Diskussionsrunden eine Beurteilung versucht. Jean Bricmont aus dem belgischen Louvain stellt ein zunehmendes Interesse der Physiker an diesen Grundlagenfragen fest. Viele konventionelle Antworten hätten sich nicht als tragfähig erwiesen, so Bricmont.
   Vor allem interessierten sich die Teilnehmer für die Statistische Mechanik, die die altbekannte Idee, dass Wärme nichts anderes ist als unkontrollierte Bewegung von Teilchen, mit mathematischer Präzision ausarbeiten will. Hier spielt die Chaostheorie eine besondere Rolle: ein Stoßvorgang zweier Moleküle, wie er in der Luft ständig stattfindet, liefe völlig anders ab, wenn die Bewegungsrichtungen der beiden Moleküle vor dem Stoß minimal anders wären. Dieser Effekt ist Grundlage für das berühmte Gesetz der Entropiezunahme.
   Doch warnten mehrere Mathematiker davor, aus der Chaostheorie zu weit reichende Schlüsse ziehen zu wollen: da die Stoßgesetze auch eine Molekülbewegung erlauben, bei der die Entropie nicht zunimmt, kann man bestenfalls beweisen, dass die Entropie für die meisten (aber eben nicht alle) Anfangszustände zunimmt, die sich mit den vorliegenden physikalischen Bedingungen vertragen. Man benutzt hier also die zusätzliche Annahme, dass der Anfangszustand ein typischer Zustand war. Was das Wort ``typisch'' dabei genau bedeutet, wurde viel diskutiert, denn auch in der Quantenmechanik spielt es eine Rolle: So muss Gott im Bohmschen Modell, in dem er nicht würfelt, eben aber doch einen typischen Anfangszustand für das Universum wählen. Dass trotz des Determinismus die Messergebnisse wie zufällig aussehen, und zwar mit vorhersagbaren Häufigkeiten, dafür sorgen dann das Typische und die Chaostheorie gemeinsam.
   Andere Modelle, die einen ``intrinsischen'', wahren Zufall annehmen, haben es deshalb nicht leichter. Denn die Relativitätstheorie verlangt, dass man die Zeit nur als Koordinate innerhalb der als Ganzes vorliegenden Weltgeschichte behandelt, als wäre das Universum ein Roman, den man komplett in der Hand hält, und in dem die Zeit etwa den Seitenzahlen entspricht.

Statistik des Happyends

Macht es einen Sinn zu sagen, auf Seite 50 gäbe es eine Wahrscheinlichkeit von 30 Prozent für ein Happyend? Wo doch feststeht, ob das Buch ein Happyend hat oder nicht, auch wenn es der Leser und die Romanfiguren auf Seite 50 noch nicht wissen? Wer meint, das Buch hätte auch anders ausgehen können, stellt die Frage, ob denn die Geschichte des Universums per Zufall gewählt sein kann, wo es doch nur eine einzige davon gibt. Wieder bleibt nur zu sagen: Unsere Weltgeschichte sieht eben wie eine typische Lösung der physikalischen Gleichungen aus.

Roderich Tumulka